Praktische Pädagogik in den Sechziger Jahren
Körperstrafen: Tatzen und Hosenspanner
Ich bezog im Frühjahr des Jahres 1963 meinen Platz an der Fensterseite einer von drei uralten Bankreihen in der ersten Klasse der 'Volksschule Ochsenhausen'. Solche altertümlichen Bänke kennt man heute eigentlich nur noch aus alten Filmen oder von Fotos und vielleicht stammten diese Schulbänke ja sogar noch aus der Kaiserzeit, jedenfalls wirkten sie sehr, sehr alt. Dazu passte, daß die Grundzüge des Schreibens uns Kindern damals noch mittels Schiefertafel, Griffel und Schwämmchen beigebracht wurden.
Ein Junge in unserer Klasse, daran kann ich mich noch gut erinnern, machte während unserer ersten mühsamen Übungen stets nur Zackenlinien auf seine Tafel. Stolz verkündete er dabei nach kürzester Zeit:
„Ich bin schon fertig!“
Nur wenn Frau S., unsere Lehrerin, in seiner Nähe blieb, gab er sich wirklich Mühe, die Buchstaben von der großen Tafel nachzumalen.
Diese kleine Beiläufigkeit prägte sich mir wohl vor allem deshalb ein, weil Frau S. einmal über diesen Ungehorsam richtig wütend wurde und den Jungen mit einer ganzen Reihe von Schlägen auf den Hinterkopf bedachte. Die Zackenlinien erschienen jedoch sehr bald nach dieser ersten erlebten Prügelstrafe wieder auf der Schiefertafel und nach wenigen Wochen wurde der Kamerad für ein Jahr zurückgestellt.
Überhaupt gab es im Laufe des Jahres unter Frau S. für grobe Ungehorsamkeiten oder Flegeleien schon mal ein paar Schläge mit dem Haselstock auf den Hosenboden. Diese 'Hosenspanner' wurden so genannt, weil das Kind dabei hinten am Hosenbund über das Knie der züchtigenden Person oder über eine Tischkante gezogen wurde und sich die Hose dadurch so eng über das gespannte Gesäß straffte, daß deren Textil die Schmerzen nicht im geringsten Maße abzumildern vermochten. Auch von den sogenannten 'Tatzen', Schlägen mit dem Stock auf die ausgestreckte Handfläche, bekamen wir einmal eine praktische Vorführung geboten.
Fast alle von uns jedoch erlebten diese Strafen nur als Zuschauer, denn Prügel waren eher selten und hatten fast immer einen nachvollziehbaren Grund. Ordnung und Disziplin, diese Tugenden wurden eben zu Beginn der 7. Dekade des letzten Jahrhunderts noch von niemandem in Frage gestellt. Warum sollte falsch sein, was schon seit Jahrhunderten üblich war?
Ich selbst kann mich aber nicht daran erinnern, daß ich von Frau S. jemals geschlagen wurde.
Im zweiten Schuljahr durften wir bereits mit Bleistift und Füller Hefte beschreiben. Unter Fräulein G., wie unsere neue Lehrerin hieß, gab es sogar überhaupt keine körperliche Strafen und wir begannen die Geschichten von Prügelorgien durch Lehrer, welche ältere Schüler im abgeklärten Ton selbst durchlebter Heldensagen manchmal zum Besten gaben, für Angeberei zu halten. Der Unterricht war kindgerecht und folgte den damaligen pädagogischen Richtlinien. Wenn ich mich recht erinnere, waren wir die erste Klasse überhaupt, welche von Fräulein G. als Klassenlehrerin unterrichtet wurde, denn sie hatte vor kurzem erst ihre Ausbildung abgeschlossen.
Die Veränderungen zu Beginn des traumatischsten Jahres meiner Schulzeit waren schon äußerlich sichtbar. Anstelle der kaiserlichen Bankreihen hatte unser drittes Klassenzimmer, das wir 1965 bezogen, frei bewegliche Tischchen und richtige Stühle. Wir hatten schon gehört, daß unser neuer Lehrer, ein Herr L., sehr streng sein sollte.
Als erstes wollte der Herr L., ein unangenehm wirkender, nickelbebrillter Mensch Ende Zwanzig, zum frühjährlichen Schulbeginn von jedem und jeder wissen, ob und welchem Beruf Vater und Mutter nachgingen.
Danach beurteilte er dann seine Schüler und Schülerinnen, das wurde sehr bald darauf deutlich. Mein Vater war zusammen mit meinem Onkel als Fuhrunternehmer selbstständig, die beiden besaßen einen eigenen LKW, während meine Mutter neben dem Haushalt ein kleines Lebensmittelgeschäft betrieb.
Letzteres war genau der Punkt, den Lehrer L. störte.
Wie sich aus seinen Erzählungen während des folgenden Schuljahres herausstellte, hatte Lehrer L. die letzten Kriegsjahre als Kind in bitterer Armut in Mannheim verbracht. Oft hielt er uns vor, wie gut es uns doch ginge, während er in unserem Alter über das bisschen Butter, den seine Mutter aus dem dürftigen Rahm der dünnen Kriegsmilch geschlagen hatte, überglücklich sein musste. Dann die Notzeit nach dem Krieg. Das streng verbotene und mit harter Strafe bedrohte Einsammeln von Kohle, welche aus den Tendern entlang der Geleise des Mannheimer Bahnhofs gefallen war, Geschichten vom Horten von Lebensmitteln durch betrügerische Lebensmittelhändler und ähnliche Dinge.
Folgerichtig war ich als Sohn einer Lebensmittelhändlerin auch einer der ersten, der die 'Tatzen' dieses Burschen zu spüren bekam. Und die waren saftig. Er holte weit aus und ließ den Stock mit Kraft auf meine Handflächen sausen. Wer etwa auf die Idee kam, die Hand im letzten Augenblick zurückzuziehen, tat sich damit keinen Gefallen...
Diese 'Tatzen' sollte ich nun sehr häufig, teilweise täglich, während des gesamten Schuljahres zu spüren bekommen und sie wurden vorzugsweise vor Diktaten, Aufsätzen oder sonstigen Schreibarbeiten erteilt. Gründe für Prügel fanden sich damals ja bei etwas bösem Willen reichlich.
Es begann alles damit, daß ich gleich am dritten oder vierten Tag in meinem kindlichen Leichtsinn vergessen hatte, einen Teil der Hausaufgaben zu machen. Doch hatten die Prügel, die ich daraufhin bezog und bei denen stets ein süffisantes Lächeln die Lippen des Lehrers L. umspielte, nicht etwa den Effekt, mein Erinnerungsvermögen zu stärken.
Oh nein, im Gegenteil, mit der Zeit setzte sogar ein Verdrängungsmechanismus ein. Sobald ich das Schulgebäude verließ, begann ich die erteilten Arbeiten zu vergessen. Wenn ich dann zu Hause ankam, konnte ich mich nicht mehr an diese erinnern. Die Hefte, in dem diese Aufgaben zu notieren waren, holte ich nur selten hervor, denn wir hatten ja nichts auf, das bestätigte ich auch guten Gewissens meinen Eltern. Es war eine wirkliche psychische Barriere, welche sich durch die Schläge im Laufe der Zeit entwickelte, paradoxerweise, obwohl mir gerade diese Blockade immer neue Prügel einbrachten. Zu Hause wurde ich praktisch nie geschlagen, bei den beiden Fällen während meiner gesamten Kindheit, an die ich mich erinnern kann, waren die Schläge verdient und fielen auch nicht sehr heftig aus. Gerade diese Tatsache ließ mir aber die Körperstrafen des Lehrers um so schrecklicher erscheinen.
Zu den Erinnerungslücken an die Hausaufgaben trug allerdings auch bei, daß Lehrer L. gezielt die Hausaufgaben oft dann erteilte, wenn ich gerade beim Pinkeln oder aus sonst einem Grund abwesend war. Er könne keine Rücksicht darauf nehmen, ob bei der Erteilung der Hausarbeiten gerade alle anwesend seien, es sei die Pflicht eines jeden Schülers, sich nach einer solchen Pause bei den Kameraden zu erkundigen, ob Hausaufgaben erteilt worden wären.
Das nahm sich einer meiner Mitschüler gleich zu Herzen. Als er von der Toilette zurück kam, erkundigte er sich leise bei seinem Nebenmann nach eventuell erteilten Aufgaben. Prompt wurde er samt seinem Nebensitzer ob der Störung des Unterrichts nach vorne gerufen und die Beiden bekamen ihre Tatzen. Das Standardmaß für kleine Vergehen, drei auf jede Hand.
Erkundigen solle man sich in einem solchen Fall während der Pause und auch die Antworten seien zu dieser Zeit zu geben, ergänzte dabei der Lehrer die Verhaltensvorschriften.
Intrigen...
Lehrer L. begann sich im Lauf der Zeit mehr und mehr auf mich einzuschießen.
Da Prügel ihm bei meiner 'Disziplinierung' nicht wirklich weiter halfen, begann er mittels Bevorzugung und Benachteiligung unsere Klassenkameradschaft aufzubrechen. Mich versuchte er dabei möglichst oft dem Hohn meiner Mitschüler preis zu geben. So entblödete er sich nicht, für mich vor der spöttisch johlenden Klasse den Spitznamen 'Pfanni' vorzuschlagen, eine ebenso plumpe wie dümmliche Anspielung auf die gleichnamige Lebensmittelmarke, welche auch meine Mutter verkaufte. Ich allerdings sorgte rasch dafür, daß es sich nur die Stärksten der Klasse getrauten mich so zu nennen, und das auch nur sehr selten, denn unbedingt folgte darauf ein Faustschlag meinerseits in Richtung der Nase des Betreffenden, auch wenn mein Kontrahent stärker war als ich. So hatte dieser Spitzname keine Chance sich zu halten und wurde nur benutzt, wenn man mich zum Kampf herausfordern wollte.
Bei einer Demonstration des Samenfluges von Fichtensämlingen aus den Fenstern unseres Klassenzimmers waren diese derart dicht besetzt, daß ich den Flug nicht beobachten konnte. Darauf machte L. eine Mitschülerin aufmerksam. Sein Kommentar:
„Der bleibt doch sowieso sitzen, der kann das ja dann im nächsten Jahr beobachten!“
Was wiederum etliche schadenfrohe Gesichter erzeugte.
Doch seine Interpretation von Pädagogik zeigte manchmal auch unvorhergesehene Folgen.
Denn es gab einen exklusiven Klub von bevorzugten Schülern.
Die Söhne von Ärzten etwa oder die Tochter seiner Hauswirtin, aber auch ein paar Strebsame, welche sich einzuschmeicheln verstanden, kamen mit dem Lehrer L. prima zurecht. Vorausgesetzt, der Beruf deren Eltern schien ihm genehm, sonst hatte man trotz Unterwürfigkeit und Fleiß keine Chance, in die Gemeinschaft seiner Lieblinge aufgenommen zu werden.
Dabei war der Anreiz, in diesen Klub aufzurücken, ziemlich groß, denn in diesem wurde man zum Beispiel für vergessene Hausaufgaben nicht automatisch mit 'körperlichen Verweisen' bestraft und auch die Benotung war sehr selektiv.
Nicht alle aber begriffen, daß dieser Aufstieg nicht jedem möglich war.
Um sich nun beim Lehrer L. ebenfalls lieb Kind zu machen und in seiner Gunst aufzusteigen, ließ sich ein Kamerad etwas ganz Besonderes einfallen.
Eines Morgens traf er einen vorher ausgewählten Mitschüler ganz 'zufällig' auf dem Schulweg.
„Erzähle mir doch einmal etwas ganz Schlechtes über den Herrn L.!“
Begann er irgendwann während des Weges seine Intrige.
Der so Angesprochene hatte sich seines fragwürdigen schulischen Werdegangs wegen einige Tage vorher mit seinen Eltern in die Wohnung des L. begeben müssen und erzählte nun in seiner Arglosigkeit bereitwillig, daß es in dessen Wohnung furchtbar aussähe und sogar auf dem Tee, den seine Eltern serviert bekamen, wäre eine dicke Schmutzschicht geschwommen. Alles sei sei dort ganz furchtbar ekelhaft und widerlich gewesen, das hätten auch seine Eltern gesagt.
In der großen Pause ging nun der kleine Intrigant zum großen Intriganten, erzählte letzterem aber natürlich auch nur den letzten Teil der morgendlichen Geschichte.
Es folgte ein derartiges Theater, daß sogar ich an diesem Tag ohne Tatzen davonkam, denn sehr schnell nämlich erfuhr der Herr L. nach der Pause durch ein gestrenges Verhör den gesamten Sachverhalt.
Welch eine infame Verleumdung!
Die Eltern der beiden Delinquenten bekamen blaue Briefe, die einen wegen der üblen Nachrede, die anderen wegen der Aufforderung ihres Sohnes dazu und L. meinte, beide Jungen würden im etlichen Wochen darauf beginnenden nächsten Schuljahr in die Parallelklasse versetzt. Solchen Leuten könne und wolle er nicht weiter den Genuß seines Unterrichts angedeihen lassen. Ob er die beiden auch mit Prügel bedachte, weiß ich nicht mehr, eher nicht, denn dafür hing er die Sache zu groß auf, sein Ruf schien gefährdet. Doch hatte mindestens eine der späteren Abreibungen, welche die Bösewichte im restlichen Schuljahr noch bekamen, in dieser Geschichte ihre eigentliche Ursache, an diese Hosenspanner kann ich mich noch gut erinnern.
Ich kannte jetzt also schon zwei meiner künftigen Klassenkameraden näher, denn auch mir hatte L. klargemacht, daß er mich im nächsten Jahr nicht mehr in dieser Klasse sehen wolle, worüber ich sehr glücklich war. Über einen der Jungen, der mit mir in die Parallelklasse versetzt werden sollte, freute ich mich. Der andere, jener der die Intrige ersonnen hatte, war mir jedoch suspekt. Ein paar Mal schon war er mir aufgefallen, als er zu Pausenbeginn, als die meisten Schüler den Raum schon verlassen hatten, vorne am Tisch mit hochwichtiger Miene auf den Lehrer einsprach.
Zur Verlegung von uns drei Schülern kam es aber nicht, denn L. wurde im nächsten Jahr einer anderen Klasse zugeteilt, vielleicht hatte er mit der angestrebten Versetzung von gleich drei Schülern in die Parallelklasse den Bogen ja überspannt.
... und Klassenprügel
Allerdings habe ich dem Herrn L. auch eine tiefe Lehre fürs Leben zu verdanken, das muß ich anerkennen.
Er ging nämlich irgendwann kurzzeitig dazu über, mich nicht nur zu verprügeln, sondern zusätzlich der gesamten Klasse Strafarbeiten aufzugeben, wenn ich, wie üblich, meine Hausaufgaben nicht oder nicht vollständig erledigt hatte. Auf den dabei natürlicherweise einsetzenden allgemeinen Protest reagierte er, indem er stets erzählte, daß zu seiner Schulzeit Mitschülern, welche sich nicht in die Klasse fügten und derentwegen der Gesamtheit Strafarbeiten aufgebrummt worden seien, von der ganzen Gemeinschaft sogenannte 'Klassenprügel' verabreicht wurden. Die 'Abreibungen' hätten seinerzeit diese Nonkonformisten immer ganz schnell diszipliniert.
Daß sich diese Strafarbeiten jedoch nur sehr kurze Zeit in Mode hielten, trug sich folgendermaßen zu:
Nachdem er nämlich dieses Spiel nun ein paar Mal getrieben hatte, wurde ich während einer großen Pause unversehens von allen umringt, den Knaben ebenso wie auch von den neugierigen Mädchen, welche möglicherweise sogar die Burschen erst aufgestachelt hatten.
Ein Lehrer zur Pausenaufsicht war an diesem Tag weit und breit nicht zu sehen.
Es waren nicht gerade wenige, die mich eng umstanden, denn unsere Klasse zählte etwa 40 Köpfe.
„Jetzt bekommst du deine Klassenprügel!“
Johlte die Bande in gerechtem Zorn über die kurz vor der Pause erteilte Strafarbeit.
Gesagt, getan. Jemand aus der Menge schlug mich mit der Hand ins Gesicht.
Ich reagierte sofort und donnerte meine Faust mit aller Kraft in die Richtung, in der die Köpfe meiner Gegner am dichtesten beisammen waren. Ich erwischte einen davon voll auf das Ohr. Zufällig gehörte diese Birne zu unserem Primus, dem Kurt M.
Oder nein, so zufällig war das gar nicht, wenn ich ehrlich bin. Denn wenn es einen mir körperlich überlegenen Mitschüler getroffen hätte, wäre es sofort zum Kampf gekommen und alle hätten sich dann auf mich gestürzt, das war mir klar. Kurt stand in der Hierarchie ganz oben, war daher ein lohnendes Ziel, dabei aber nicht gerade der Mutigste, so viel an Berechnung lag schon im Zufall dieser schnellen Reaktion. Der arme Kerl hatte mich sicher nicht geschlagen, er stand aber gerade so günstig und ich musste handeln.
Kurti starrte mich ob der Ungerechtigkeit, daß ich ihm, einem völlig Unschuldigen, Schmerz und Demütigung zugefügt hatte, groß an - wobei er wohl kurz überlegte, wie er denn jetzt am Besten reagieren sollte - legte dann seine flache Hand aufs Ohr, öffnete weit den Mund, begann laut zu schreien und rannte, den größten Teil der bisher kurzzeitig erstarrt scheinenden Klasse im Schlepptau, in das Schulgebäude.
Damit hatte ich zwar mit einem einzigen Schlag die Anzahl meiner Feinde drastisch reduziert, jedoch blieb immerhin eine erkleckliche Zahl weniger Furchtsamer zurück, welche auf tätige Rache sannen. Das Glück aber ist bekanntlich oft an der Seite der Tatkräftigen. Rainer nämlich, ein Spielkamerad aus meiner Nachbarschaft welcher drei Jahre älter war, hatte die Szene aus einiger Entfernung beobachtet und kam gerade mit zweien seiner Freunde herbei:
„Wir müssen ihm Klassenprügel geben, das hat uns der Lehrer gesagt!“
Rechtfertigten sich meine verbleibenden Feinde auf die Frage, weshalb so viele gegen einen gingen.
„Das ist mir scheißegal. Wenn ich je höre, daß ihr den Peter gemeinsam verprügelt, dann passe ich jeden von euch einzeln ab und haue ihn windelweich!“
Das wirkte, jetzt entfleuchte auch den Mutigen und Starken ein für alle Mal die Rachsucht und sie folgten der restlichen Klasse ins Gebäude, um zu erleben, wie diese Rache nun von einer höheren Institution übernommen würde.
Ich trieb mich noch einige Zeit nach dem Klingeln auf dem Schulhof herum, denn ich erwartete, ebenso wie meine Mitschüler, wegen meiner frechen Gewalttat vom Lehrer bestraft zu werden. Aber es blieb mir nichts weiter übrig, einfach nach Hause zu gehen getraute ich mich nicht und so erreichte ich doch irgendwann das Klassenzimmer. Lehrer L. war heute sehr spät dran und noch immer nicht da, doch ging es turbulent zu. Klein-Kurt heulte, von Gejammer unterbrochen, noch immer und alle straften mich mit schadenfrohen Blicken ob der noch nie dagewesenen Tracht Prügel, welche sicherlich in wenigen Minuten über mich hereinbrechen würde.
Als der Lehrer endlich das Klassenzimmer betrat, legte der kleine Kurti erst richtig los. Natürlich in der Absicht, meine zu erwartende Strafe in möglichst große Höhen zu schrauben. Wehklagend unterbrach er zuweilen seine lauten Tränen.
„Au, au, mein Ohr! Das tut so weh, das tut so weh! Aua, aua, aua...“
Was alle erwartet hatten und Kurti so sehr erhoffte, traf aber nicht ein. Der desorientierte Lehrer L. erschrak nämlich ob Kurtis Wehegeheul sehr. Sicherlich hatte er ja bei Erteilung der großzügig bemessenen Strafarbeit erwartet, daß er nach der Pause einen plärrenden Buben im Klassenzimmer vorfinden würde, doch leider heulte nun der falsche Bursche, sein besterzogenster Schüler.
Er fragte unsicher, was denn eigentlich passiert sei.
„Nicht alle durcheinander! Also, weshalb wolltet ihr ihm denn Klassenprügel geben? Wie seid ihr denn bloß auf diese Idee gekommen?“
Stellte er sich unschuldig, nachdem er das Wichtigste aufgeschnappt hatte.
„Sie haben doch selbst gesagt, wir sollten ihm Klassenprügel geben!“
„Das habe ich gar nie gesagt, das ist gelogen! Ich habe höchstens einmal erzählt, wie es früher war! Nie habe ich euch aufgefordert, ihr solltet das nachmachen!“
„Doch, doch, das haben sie gesagt: Wir sollten ihm eine Abreibung geben!“
„Mit 'Abreibung' habe ich doch nur gemeint, daß wir solche Schüler früher ein bisschen mit Schnee abgerieben haben, wir haben uns nie mit den Fäusten geschlagen und gar nie habe ich gesagt, ihr sollt das nachmachen! - Aber ich verstehe das nicht, wie kam es, daß so viele nicht mit einem Einzigen fertig wurden?“
„Er hat gleich den Kurt gehauen!“ „Ja, und dann sind Sechstklässler gekommen und haben ihm geholfen.“ „Wir haben denen gesagt, daß sie uns gesagt haben, wir müssten ihn verprügeln, aber das war denen egal...“
Die Nachricht, daß ältere Schüler eingegriffen hatten, löste merkwürdigerweise keine Empörung beim Lehrer aus, sondern schien dessen Unsicherheit sogar noch zu steigern.
„Ein für alle Mal: Ich habe euch nicht gesagt, daß ihr ihn verprügeln sollt, das ist eine Lüge! Ausgerechnet heute war eine sehr wichtige Besprechung im Lehrerzimmer, bei der alle anwesend sein mussten. Wenn man einmal keine Zeit zum Aufpassen hat, dann passiert prompt eine Katastrophe...“
Angst schwang jetzt in seiner Stimme mit, denn Kurti blieb auch nach der Aufforderung, sich zu beruhigen, stur bei seiner einmal eingeschlagenen Strategie und wehklagte weiterhin mit schmerzverzerrtem Gesicht, die flache Hand ans linke Ohr gepreßt.
Es musste ihm doch gelingen, meine Bestrafung zu erzwingen!
Halb ängstlich, halb aber staunend verfolgte ich diese Szene, wobei allerdings auch mir begannen, die Tränen herunterzurinnen. Die Angst unseres Lehrers spürten jedoch, vermutlich aber außer dem Kurt, welcher zu sehr mit sich selbst beschäftigt war, alle ganz deutlich.
Lehrer L. nämlich überkam aufgrund des Verhaltens von Kurt der Verdacht, dessen Trommelfell könne geplatzt sein. Er befragte ihn ausführlich über die Art der Schmerzen, was dem Kurt natürlich Anlaß zu weiterer Übertreibung bot und so schickte er ihn schließlich in Begleitung eines anderen Schülers zum Arzt. Wenn Kurt tatsächlich verletzt war und die Klasse aussagte, daß er der Initiator der versuchten Klassenprügel war, dann konnte das für ihn übel ausgehen.
Das wurde mir aber natürlich erst sehr viel später, nach einigen Jahren, klar.
Mich sprach der L. an diesem Tag nur kurz einmal an und drohte mir für meine Eltern teure Konsequenzen im Falle einer Verletzung des armen Kurt an und er hoffe, sie hätten eine gute Haftpflichtversicherung. Ansonsten aber ignorierte er mich an diesem und auch an den folgenden paar Tagen vollständig. Dafür betonte er mehrmals, daß er der Klasse niemals geraten hätte, irgend wen zu verprügeln, wer etwas anderes behaupte, müsse mit drastischen Folgen für eine derartig freche Lüge rechnen. Überhaupt wolle er nie wieder etwas von 'Klassenprügel' vernehmen.
Nun, Kurtis Trommelfell war glücklicherweise nicht geplatzt, seine Einlage war natürlich zum großen Teil Show gewesen und brachte ihm nur den restlichen Tag schulfrei ein. Niemand war darüber, daß alles so glimpflich verlief, wohl glücklicher als unser verunsicherter Lehrer L. Strafarbeiten für die ganze Klasse wurden von ihm nie wieder erteilt. Nach etwa zwei Wochen aber bekam der Kurt unversehens einmal wegen irgend einer kleinen Sache eine deftige Portion Hosenspanner ab, was uns alle sehr verwunderte.
Meine Einstellung gegenüber dem vorher so mächtig scheinenden Lehrer hatte sich für alle Zeit verändert. Durch seine gezeigte Angst schien mir seine Macht stark geschrumpft, auch wenn mir damals noch nicht ganz klar war, welche Ursache diese Angst eigentlich genau hatte. Ich war ja damals noch keine 9 Jahre alt und wusste nichts über Aufsichtspflicht oder Beamtenlaufbahn.
Mein so wunderbar leicht erkämpfter Sieg aber stärkte mein Vertrauen in die Macht meiner Fäuste. Im nächsten Schuljahr ging ich folgerichtig dazu über, diese Fäuste all jene spüren zu lassen, welche sich im letzten Schuljahr mir gegenüber gemein verhalten hatten.
Und das waren einige. Zwar waren etliche davon stärker als ich, doch diesen Nachteil machte ich durch rabiates Vorgehen wett. Die frühe Zufallsentdeckung, daß ein überraschender, kräftig und klug ausgeführter Befreiungsschlag auch eine aussichtslos scheinende Situation schnell wenden kann, war eben eine prägende Erfahrung.
Lehrer L. jedenfalls hielt sich mit Verhöhnungen und Intrigen mir gegenüber seit diesem Vorfall zurück. Auch sein mehrfach offen ausgesprochenes Ziel, mich aufgrund schlechter Bewertungen die dritte Klasse wiederholen zu lassen, erreichte er nicht.
Wohl aber erreichte er, daß ich mich, bis fast zum Ende der Schulzeit, nicht mehr für die Schule interessierte und ich mich lediglich damit begnügte, das Klassenziel, nämlich die Versetzung, zu erreichen.
Prügel waren eine Begleiterscheinung meiner gesamten Schulzeit, welche 1971 endete, und lediglich bei den ganz jungen Lehrern verpönt. Doch wurden sie auch von keinem der späteren Lehrer mehr als permanentes Terrorinstrument mißbraucht, wenngleich der eine oder andere von uns schon mal eine Prügelorgie über sich ergehen lassen musste, wenn ein Lehrer einen schlechten Tag hatte. Etliche der älteren Lehrer waren in diesen Jahren noch ehemalige Offiziere. Aufgrund der Tatsache, daß sie das Abitur noch in Friedenszeiten absolviert hatten, hatte man ihnen, wegen des akuten Lehrermangels gleich nach dem Krieg, eine pädagogische Schnellausbildung verpasst und sie in den Schuldienst gesteckt, um die Kriegslücken zu füllen.
Rechtschreibförderung: Alpheios
Noch 1968 wurde ich Zeuge, daß ein Kamerad etwa eine viertel Stunde lang immer wieder Prügel bezog, weil er das diktierte Wort 'Alpheios' falsch an die Tafel schrieb.
Nach den ersten paar falschen Versuchen setzte es zunächst jeweils Hosenspanner oder Backpfeifen. Dies jedoch brachte immer abstrusere Schreibweisen bei dem völlig verwirrten Jungen hervor. Das wiederum versetzte Lehrer B. in solche Rage, daß schließlich schon der erste falsch geschriebene Buchstabe einen Schlag an den Kopf nach sich zog, und zwar manchmal so heftig, daß dieser dabei auch noch gegen die Tafel knallte. Durch den Schwung zerbröselten auch etliche Stücke Kreide in den Fingern des Unglücklichen, weil sie mit an die Tafel gedrückt wurden.
Ganz sicher hätten die falschen Buchstabenkombinationen, welche diese merkwürdige Prozedur erzeugte, mindestens eine Heftseite gefüllt, hätte man sie alle notiert. Es war schlicht das Gesetz der Wahrscheinlichkeit, daß in diesem Buchstabensalat, in dem nach und nach ein guter Teil des ganzen Alphabets auftauchte, doch letztlich einmal der korrekt geschriebene Name an der Tafel zu lesen war.
Niemand aber kann, bei aller vielleicht berechtigten Kritik, die pädagogische Wirksamkeit dieser Vorgehensweise bezweifeln. Ganz sicherlich wurde Alpheios, dieser ungeheuer wichtige und so häufig erwähnte griechische Fluß, von keinem Zeugen dieser Zeremonie je wieder falsch geschrieben.
Ob mittlerweile durch die sogenannte 'Rechtschreibreform' aus dem 'Alpheios' ein 'Alfeios' wurde, das vermag ich nicht zu sagen, daß durch diese Reform aber die einheitliche Rechtschreibung faktisch abgeschafft wurde, ist allerdings, nicht nur im Interesse der Schulkinder, positiv zu bewerten.
Peter Engelhardt